Transformation bedeutet aus systemischer Sicht, dass ein System seinen eingeschwungenen Zustand verlässt und sich auf die Suche nach einem neuen Gleichgewichtszustand begibt. Stimuliert wird diese Phase der Instabilität, also die Transformationsphase, von der Verfügbarkeit neuer Technologien gepaart mit neuen gesellschaftlichen Strömungen. Zusammen erzeugen sie Druck auf das System und initiieren den Transformationsprozess. Die dabei wirkenden Technologien sind in der Regel nicht neu, haben aber inzwischen einen gewissen Reifegrad erreicht und sind zu einem attraktiven Preis am Markt verfügbar. Das ermöglicht deren konvergenten und wirtschaftlichen Einsatz in verschiedenen Anwendungsfeldern. Auch neue gesellschaftliche Herausforderungen setzen Transformationsimpulse, wie beispielsweise das Thema der globalen Erwärmung. Ihre Ursache liegt darin, dass wir seit rund 300 Jahren eine Wirtschaft etabliert haben, die überproportional auf einem Abbau von natürlichen Ressourcen beruht. Dieser enorme Ressourcenabbau führte mit einigen Jahrzehnten Zeitverzögerung zur Erderwärmung.
Der Sand im Getriebe der Nachhaltigkeit
Unter dem Schlagwort „Nachhaltigkeit“ wird nun ein Konsens gesucht, der als Leitmotiv für einen neuen stabilen Systemzustand dient. Typisch für einen solchen Konsens ist, dass auf breiter gesellschaftlicher Ebene Veränderung stattfinden muss. Ein solcher Veränderungsdruck erzeugt immer Widerstände und Beharrungsvermögen von Organisationen und Individuen, die befürchten nach dem Transformationsprozess schlechter gestellt zu sein als im aktuellen Zustand. Daher wird ein Transformationsprozess in der Regel von nicht offen ausgetragenen „Verteidigungsgefechten“ begleitet, deren Ursache in den Zukunftsängsten vieler Akteure begründet ist. Ihr Ziel ist es, den Transformationsprozess aufzuhalten oder wenigstens zu verlangsamen.
Grundsätzlich gilt in einem Transformationsprozess: keine Veränderung ohne Selbstveränderung. Jedes Individuum und jedes Unternehmen, das Akteur des bisherigen Systems war und somit zu dessen eingeschwungenem Gleichgewichtsprozess beigetragen hat, muss sich selbst verändern, will es noch relevanter Akteur im neuen System sein. Die Alternative ist aus dem System zu verschwinden, was für Unternehmen das Verschwinden vom Markt bedeutet – einstige Größen wie Kodak, Alcatel-SEL, Loewe oder Nokia haben die bittere Erfahrung gemacht. Für Volkswirtschaften kann dies bedeuten, dass man seine relative Stärke im globalisierten Markt verliert und ins Mittelmaß abrutscht.
Auffällig in einem Transformationsprozess ist, dass der Veränderungsbedarf zwar sehr schnell erkannt wird, aber bei zahlreichen Akteuren die Selbstreflexionsfähigkeit nicht vorhanden oder in einer Phase langanhaltenden Erfolgs „alter Zeiten“ abhandengekommen ist. Häufig wird Veränderung gepredigt, im eigenen Umfeld aber zu wenig konsequent gelebt, denn: keine Veränderung ohne Selbstveränderung.
Alte Paradigmen müssen über Bord
Was bedeutet das nun für das Thema Nachhaltigkeit? Unter „nachhaltig“ verstehe ich einen Systemzustand, der sich über einen sehr langen Zeitraum hinweg stabil halten kann. Häufig wird Nachhaltigkeit im Kontext des Ressourcenverbrauchs diskutiert. Das führt dazu, dass die Akteure aus Wirtschaft, Wissenschaft und Politik im Sinne einer Kreislaufökonomie ein System etablieren, das Ressourcen nur wandelt und ohne nennenswerten Netto-Ressourcenverbrauch auskommt. Kritisch hierbei ist, dass vor allem in der Politik, aber auch in zahlreichen Unternehmen unter dem Sammelbegriff Nachhaltigkeit viel zu linear gedacht wird und die Komplexität, die sich aus diesem Transformationsprozess ergibt, nur in Ansätzen erfasst wird. Zu wenig Diskussionen über Paradigmen, die im zukünftigen System keine Rolle mehr spielen, führen zu einem Festhalten an überholten Denkmustern. Das verbaut Zukunftschancen und führt beispielsweise dazu, dass in Unternehmen digitale Kompetenzen für Abteilungen definiert werden, die es nach der Transformation nicht mehr geben wird. Oder auch die Diskussion, ob man eine Digitalisierungseinheit oder einen Digitalisierungsbeauftragten in Organisationen benötigt: Eine solche Institution wirkt nur dann, wenn sie das Mandat hat in der gesamten Organisation Veränderungsprozesse voranzutreiben und sich gegen die Widerstände und das Beharrungsvermögen der etablierten Bereiche mit aller Konsequenz durchsetzen kann. Alles andere würde die Digitalisierung „neben die bisherige Organisation“ setzen, damit alle in der Organisation möglichst nach bewährtem Muster weitermachen können. Und die neue Digitalisierungseinheit „beratend“ zur Seite stehen darf.
Nicht zu trennen: Nachhaltigkeit und Digitalisierung
Nachhaltigkeit, Digitalisierung und digitale Transformation müssen in einem Guss diskutiert und angegangen werden. Dies reicht in der Politik vom nachhaltigen Gestalten eines neuen Steuerrechts über neue Rahmenbedingungen im Bereich Gesundheit und ein Versorgungssystem (Rente, Krankheit) bis hin zu einer klaren Definition der Infrastrukturleistungen, die der Staat seiner Bevölkerung anbietet und auf denen sich dann ein Wirtschaftssystem etablieren kann. Aktuell ist dies weder auf Bundesebene noch auf Landesebene, jedoch in einigen Ansätzen auf europäischer Ebene (und zwar in den Bereichen, in denen die einzelnen Länder nicht proaktiv mitgestalten) in Sichtweite.
In der Wirtschaft ist die Situation ähnlich. „Nachhaltig“ könnte dann beispielsweise für die Automobilindustrie bedeuten, dass man sich als Organisation von dem Paradigma verabschieden muss, dass ein Kunde ein Auto besitzen will und dass somit die Anzahl der verkauften Fahrzeuge als nach innen gerichtetes und identitätsstiftendes Leitmotiv wegbricht. Man würde nicht mehr die verkauften Fahrzeuge kommunizieren, sondern etwa die Anzahl der zurückgelegten Kilometer pro Lebenszeit eines Autos. Ein solcher Paradigmenwechsel würde in einem Unternehmen allen Bereichen einen erheblichen Veränderungsdruck auferlegen, aber vielleicht wäre ein Automobilhersteller nach der Umstellung sogar wirtschaftlich erfolgreicher.
Die Landesregierung in Baden-Württemberg hat sich nun etwas deutlicher als bisher dem Thema Nachhaltigkeit verpflichtet. Es bleibt jedoch abzuwarten, ob sie die Kraft hat diesen Transformationsprozess in der eigenen Struktur so vorzuleben, dass ein entsprechender Veränderungsimpuls auf die Wirtschaft in Baden-Württemberg überspringt. Gelingt dies, können es die Unternehmen in Baden-Württemberg schaffen, wesentliche Akteure in zukünftigen Wertschöpfungsnetzwerken zu sein und somit viel Wertschöpfung nach Baden-Württemberg zu holen. Gelingt das nicht, wird Wertschöpfung in anderen Teilen der Welt generiert. In jedem Fall gilt: keine Veränderung ohne Selbstveränderung!
Ansprechpartner:
Dr. Jürgen Jähnert